Was ist die Bilanz unserer Reise durch Südniedersachsen? In einem Impulspapier hat das SOFI „Impulse für eine Politik der Gleichwertigkeit“ vorgelegt.
In Summe bekräftigt und erweitert das Transfervorhaben bestehende Forschungsergebnisse zum Thema „Gleichwertigkeit“, die bereits am SOFI und anderen Orts erarbeitet wurden.
Während der Veranstaltungen und zahlreichen Gesprächen konnten wir feststellen, dass die besuchten Dörfer und ihre Bewohner/innen bei all ihren Unterschieden auch sehr ähnliche Themen und Herausforderungen umtreiben, die den Alltag und die Lebensverhältnisse am Wohnort beeinflussen. Als besonders positiv hervorgehoben wurden die hohe Lebensqualität durch Natur und Ruhe sowie die dörfliche Gemeinschaft und nachbarschaftliche Unterstützung. Als Probleme mit dringendem Handlungsbedarf nannten die Teilnehmenden der Gesprächsrunden vor allem die Bereiche Mobilität und Internet, die in ländlichen Gegenden teils mit großen Einschränkungen verbunden seien.
Unsere Erfahrungen vor Ort zeigen mit Nachdruck, wie wichtig die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis ist. Das Projekt leistete einen konkreten Beitrag zur Bündelung lokaler Themen, die das Alltagshandeln der Menschen in ländlichen Räumen bestimmen.
Dass in einigen Orten nicht einmal der Notruf per Mobilfunk erreicht werden kann, bescheinigt dringenden Handlungsbedarf in punkto Netzausbau. Dreh- und Angelpunkt im Kontext gleichwertiger Lebensverhältnisse ist die digitale Anbindung durch eine schnelle und stabile Internetverbindung auf dem Land. Eine stabile Internet- und Mobilfunkverbindung ist in der heutigen modernen Gesellschaft ein zentrales Kriterium für Teilhabe und Chancengleichheit. Gespräche und Diskussionen um Teilhabemöglichkeiten und wirtschaftliche Perspektiven resultierten früher oder später in der Anforderung nach verlässlichem Internet. Eine hohe Datenübertragungsrate ist entscheidend für wirtschaftliche Anforderungen und private Entfaltungsmöglichkeiten. Sie beeinflusst die Wettbewerbsfähigkeit lokaler Betriebe; für Arbeitnehmer/innen und Selbstständige ergeben sich im Dorf zeitgemäße Möglichkeiten der Umsetzung flexibler Arbeitsmodelle (Homeoffice oder Coworking Spaces). Immer mehr Lösungskonzepte, die auf die veränderten Bedarfslagen in vielen ländlichen Regionen reagieren, werden digital umgesetzt. Nachbarschaftsnetze, Bürgerbusse und Mitfahrgelegenheiten werden über mobile Apps organisiert. Termine, Neuigkeiten und Verabredungen werden über soziale Medien und Nachrichtendienste (WhatsApp) kommuniziert. Einkäufe, Kfz-Versicherungen und Überweisungen können online erledigt werden. Voraussetzung, um zeitgemäße Lösungen zu etablieren, ist jedoch der Zugang zum Internet – so ein zentrales Anliegen aus den Gesprächsrunden.
Auch besteht ein anhaltend großer Bedarf an Treffpunkten, gemeinsamen Aktivitäten oder Kontakten im Dorf – auch außerhalb des Vereinslebens. Mobile Angebote und Dienstleistungen sind hier eine Möglichkeit. Vom rollenden Bäcker bis zum Friseursalon im umgebauten Linienbus entstehen nach und nach neue Treffpunkte und Umsetzungsideen. Neue Kommunikationsräume ermöglichen Ideen, wie es gelingen kann, Fachkräfte, junge Leute, interessierte Familien wieder zurück ins Dorf zu holen oder ihnen einen Umzug aufs Land schmackhaft zu machen. Darüber hinaus sind lokale Schlüsselpersonen wichtig, die zwischen örtlichen Angelegenheiten und Interessenslagen moderieren, interne Kommunikationsprozesse anregen und den Zusammenhalt in Dörfern und zwischen Gemeinden stärken. Hier kommen bereits in vielen Dörfern Dorfmoderator/innen zum Einsatz, die speziell für dieses Ehrenamt qualifiziert sind.
Mobilität ist ein großes Thema im ländlichen Raum. Die gute Erreichbarkeit von öffentlichen Institutionen und Daseinsvorsorgeleistungen, die im eigenen Dorf fehlen (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Versorgung) kann nur durch eine gesicherte (öffentliche) Verkehrsanbindung in zumutbarer Entfernung und in zufriedenstellender Art gewährleistet werden. Status quo: Die Routen und Fahrpläne des öffentlichen Personennahverkehrs sind vor allem in sehr ländlich gelegenen Wohnorten oft nicht mit den Ansprüchen eines schnelllebigen, flexiblen Alltags in der modernen Gesellschaft vereinbar.
Aufgrund unzuverlässiger, teurer oder gar fehlender Mobilitätsangebote in ihren Dörfern erleben die befragten Jugendlichen eine erhebliche Einschränkung ihrer sozialen Aktivitäten und Freiräume. Vereine und Freunde, Einkaufsmöglichkeiten und Ärzte können teilweise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht oder nur sehr eingeschränkt erreicht werden. Auch berufliche Möglichkeiten werden beschnitten: Bei einer Gesprächsrunde zum „Wirtschaftsstandort Dorf“ in Rüdershausen wiesen Wirtschaftsakteure auf die Problematik hin, dass junge Auszubildende ohne Führerschein ihre Ausbildungsbetriebe mit dem öffentlichen Angebot zum Teil nicht erreichen können. Zudem steht die Gewinnung und langfristige Bindung von Fachkräften in Verbindung mit der (verkehrstechnischen) Erreichbarkeit der Arbeitsplätze.
Für eine Politik der Gleichwertigkeit braucht es innovative Verkehrs- und Mobilitätskonzepte, die auf veränderte Strukturen und Bedarfslagen reagieren. Ein durchdachtes Verkehrsnetz macht ländlich gelegene Wohnorte auch für Pendler attraktiv. Entwicklungs- und Verbesserungschancen stecken in einer sinnvollen Umgestaltung von Streckennetzen und Anbindungen des Nahverkehrs sowie in zusätzlichen Beförderungsangeboten.
Ländliche Räume benötigen staatliche, institutionelle und private Investoren, die das Potenzial lokaler Räume erkennen und fördern. Handlungsmöglichkeiten bieten sich z.B. in den Bereichen Arbeit und Wohnen: Mit dem Umbau und der Sanierung von Leerstand können neue Wohnkonzepte entstehen, die auf veränderte demografische und familienstrukturelle Bedarfe reagieren (z.B. Senioren-WGs, Single-Wohnungen). Der Ausbau des Arbeitssektors kann durch die Errichtung von ländlich gelegenen Coworking-Spaces, Gründerzentren und Multifunktionshäusern (flexible Arztsprechstunden oder Finanzberatungen) wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung bedeuten.
Ganzheitliche Strategien für die Entwicklung ländlicher Regionen sind gefragt, die über Gemeinde- und Verwaltungsgrenzen hinweggehen. Investitionen müssen neben Infrastrukturen auch in personelle Ressourcen für überregionale Zusammenarbeit und Kooperationen erfolgen. Daher muss die öffentliche Verwaltung als wichtiger Stabilitätsfaktor ebenso Investitionsziel sein. Präsenz in der Fläche kostet, aber die lokale Demokratie sollte es wert sein!
Von entscheidender Bedeutung bei der Entwicklung ländlicher Räume ist: Es braucht engagierte Menschen vor Ort! Es muss eine Bereitschaft für Veränderung geben – Synergieeffekte zwischen öffentlichen Infrastrukturen, Bürgergesellschaft und lokalen Unternehmen sind zentrale Treiber für neue Netzwerke und soziale Orte. Dabei geht es nicht nur um Kooperation, sondern auch um neue Wege, um auf fehlende Angebote und veränderte Bedarfslagen zu reagieren.
Um lokale Initiativen zu unterstützen und zivilgesellschaftliche Beteiligung zu fördern, benötigen Kommunen finanzielle Spielräume. Mit Blick auf die Förderstruktur sind drei Dinge zu beachten: Prozessförderung geht vor kurzfristiger Projektförderung; Fördermittel müssen bedarfsgerecht eingesetzt werden und sollten nicht per Gießkanne verteilt werden; Förderstrukturen müssen stärker vom Dorf und seinen Bewohnern her gedacht werden. Die Kreativität und das Selbstbewusstsein der Peripherie – „Es ist ein Privileg, nicht in der Stadt leben zu müssen!“ (Kuventhal) – muss einen Eigenwert erhalten, der eine bedarfsgerechte Förderidee beinhaltet.
Gleichwertige Lebensverhältnisse sind mehr als eine gute Idee!
Die Stärkung und Entwicklung des ländlichen Raums stellen zentrale Aufgaben für Politik und Verwaltung, Wissenschaft und Öffentlichkeit dar. Perspektiven und Möglichkeiten sind zu schaffen, um das Landleben in seiner Vielfalt aufzuwerten. Die Ausstattung mit und Erreichbarkeit von Leistungen der Daseinsvorsorge und öffentlichen Infrastrukturen ist voraussetzungsvoll. Es muss auf die veränderten Bedarfslagen der Menschen vor Ort reagiert werden. Innovative Lösungen und zeitgemäße Konzepte sind erforderlich.
Die Corona-Pandemie hebt die Aktualität gleichwertiger Lebensverhältnisse auf ein neues Level. Teilhabe und Chancengleichheit haben sich selten deutlicher im Vorhandensein (bzw. im Fehlen) von flächendeckender Daseinsvorsorge und Infrastruktur gezeigt. Die dringende Notwendigkeit einer stabilen, flächendeckenden Internet- und Mobilfunkverbindung wird spätestens im Krisenmodus unbestreitbar: Wenn sich Arbeits- und Schulalltag zu großen Teilen im digitalen Raum abspielen, müssen die technischen Voraussetzungen für Homeoffice und Online-Unterricht gegeben sein – auch auf dem Land! Die Krise bekräftigt auf nachdrückliche Weise, dass die Stabilität und Leistungsfähigkeit öffentlicher Güter ein sehr hohes Gut sind, das sich die Gesellschaft etwas kosten lassen sollte. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind mehr als eine gute Idee! Wir wissen heute nach der Konfrontation mit pandemischen Erfahrungen: Sie sind auch eine lebensnotwendige Idee.