Sozialräumliche Ungleichheiten – ungleiche Lebensverhältnisse
Der Grundsatz der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG; §2 Abs. 2 ROG) beabsichtigt, die gesellschaftliche Teilhabe und räumliche Chancengleichheit aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Genauer heißt es in den Grundsätzen der Raumordnung:
»Die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen, ist zur Sicherung von Chancengerechtigkeit in den Teilräumen in angemessener Weise zu gewährleisten; dies gilt auch in dünn besiedelten Regionen« (§2 Abs. 2 Nr. 3 ROG).
Was heißt das in der Praxis? Was bedeutet Gleichwertigkeit im Alltag? Inwiefern findet das Postulat Erfolg und Umsetzung? Mit Blick auf die räumliche Entwicklung, die zunehmende Disparitäten zwischen Stadt und Land sowie innerhalb von Regionen, Kommunen und Gemeinden aufweist, kann in zahlreichen Regionen von gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht die Rede sein. Sozialräumliche Ungleichgewichte verschärfen sich – zwischen urbanen und ländlichen Räumen, zwischen Schwarmstädten und Abwanderungsgebieten. Doch auch innerhalb von Städten und Dörfern wachsen Ungleichheiten. Städtische Quartiere werden abgehängt. Dörfer nehmen sehr unterschiedliche Entwicklungen. Das grundgesetzliche Postulat gleichwertiger Lebensverhältnisse steht in Frage.
Empathie für das Landleben
Absicht des Transferprojekts war es nicht, konkrete Handlungsempfehlungen vorzuschlagen. Das Vorhaben diente dazu, ein Gefühl für den ländlichen Raum zu bekommen; ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das Leben in Dörfern aussieht, wie die Bewohner es wahrnehmen. Worin manifestiert sich Gleichwertigkeit? Das Vorhaben hebt lokale Themen in die öffentliche Diskussion und gibt Impulse für eine Politik der Gleichwertigkeit. Die gesammelten Erfahrungen und Momentaufnahmen zeigen, dass „Gleichwertigkeit“ nicht nur eine schöne Idee, sondern eine wichtige Praxis ist!
Die Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hat neue Aktualität. In ihr spiegeln sich soziale, räumliche und ökonomische Unterschiede. Aber auch Ungleichgewichte zwischen und innerhalb der Regionen.
Daseinsvorsorge dank Sozialstaat!
„Gleichwertige Lebensverhältnisse“ konkretisieren sich durch Daseinsvorsorge, öffentliche Güter und Infrastrukturen. Der Begriff der Daseinsvorsorge steht für die öffentliche Gewährleistung eines Angebots lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen. Darunter fallen Gesundheit, Bildung und Sicherheit, Kommunikation und Mobilität, Umweltqualität und Versorgungssicherheit (Elektrizität, Wasser, Abfall) (vgl. Kersten 2018). Sprich: Kindergärten und Schulen, Geschäfte und Gaststätten, ärztliche und medizinische Versorgung, Verwaltung und Postbank, die in zumutbarer Entfernung vorhanden sind sowie Internet- und Busverbindungen, die Teilhabe und Selbstbestimmung auch für die Bewohner in peripher gelegenen Wohnorten ermöglichen. Da Gewährleistung dieser Leistungen (durch öffentliche oder private Hand) in der Gesellschaft größtenteils als selbstverständlich wahrgenommen wird, wird ihr Wegfall – besonders in ländlichen Räumen – oft als Exklusion und „Abgehängt sein“ erlebt.
Auf Spurensuche der Gleichwertigkeit
Das Projekt „Gleichwertigkeit – Mehr ist eine gute Idee?!“ reagierte auf die strukturellen und demografischen Veränderungen und die daraus entstehenden Herausforderungen, denen sich viele Dörfer stellen müssen: Was machen fortwährende Strukturverluste mit einem Dorf? Wie verändern sich soziale Alltagsprozesse und das dörfliche Selbstverständnis? Welche Alltagswirklichkeit hat das Postulat „gleichwertiger Lebensverhältnisse“?
Im Rahmen des Projekts hat das SOFI den Begriff der Gleichwertigkeit mit Leben gefüllt – mit Inhalten der Menschen vor Ort. Unter dem Motto „Das SOFI geht aufs Land“ haben sich Prof. Dr. Berthold Vogel und Maike Simmank in südniedersächsischen Dörfern auf die Spurensuche nach „Infrastrukturen der Gleichwertigkeit“ begeben.
Geschichten und Erfahrungen, Verluste und Erfolge, Sichtweisen und Momentaufnahmen der Reise im ländlichen Raum ergeben ein Bild, das Auskunft über die Alltagswirklichkeit, Wahrnehmung und Umsetzung von gleichwertigen Lebensverhältnissen aus Perspektive verschiedener Dörfer in Südniedersachsen gibt. Um über die Zukunft von Dörfern zu sprechen, wurde nicht nach Göttingen eingeladen, sondern es ging vor Ort, ins Dorf. „Das SOFI geht aufs Land“, um mit den Menschen über lokale Lebenswirklichkeiten zu sprechen.