Am 29. Januar 2020 fand die Veranstaltung „Gleichwertige Lebensverhältnisse – Rolle und Anforderungen des Handwerks“ in Kooperation mit der Zimmerei Diedrich in Rüdershausen statt.
Lokale Handwerksbetriebe sind tragende Akteure des Wirtschaftslebens auf dem Dorf, die als Arbeitgeber, Ausbildungsstätten und Dienstleister die lokalen Lebensverhältnisse an ihren Standorten mitgestalten. Welche Rolle Betriebe bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse spielen und welche Anforderungen das Handwerk an Infrastrukturen und lokale Versorgungsangebote stellt, war am 29. Januar 2020 Thema in Rüdershausen. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung hat das SOFI-Projekt „Gleichwertigkeit – Mehr als eine gute Idee?!“ zusammen mit der Zimmerei Diedrich den Wirtschaftsstandort Dorf in den Blick genommen.
Insgesamt 30 Personen haben an der Besichtigung des Zimmereibetriebs Diedrich sowie an der anschließenden Gesprächsrunde im Pfarrheim Rüdershausen teilgenommen. Die Bürgermeisterin Annegret Lange gab Einblicke in die wirtschaftliche Situation des Ortes: Derzeit gibt es u.a. 15 Handwerksbetriebe in Rüdershausen. Neugründungen gebe es kaum und in vielen Fällen sei auch die Nachfolge bestehender Betriebe nicht gesichert. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen könne in Rüdershausen nicht die Rede sein. Lange betonte das Potenzial, das Rüdershausen durch viel Platz, eine rasche Anbindung nach Duderstadt und Göttingen sowie günstiges Bauland habe. „Man sollte über ein Gründungszentrum im Ort nachdenken!“, denn Internet sei vorhanden. Als abschließenden Appell bemerkte sie: „Gleiche Steuern sollten auch gleichwertige Lebensverhältnisse bedeuten.“
Chancen und Herausforderungen des Handwerks in ländlichen Räumen
Bei der Führung durch die Betriebshallen berichteten Thilo Diedrich, Geschäftsführer der Zimmerei Diedrich in Rüdershausen, und Gabi Nikoleit, kaufmännische Leitung, über das Alltagsgeschäft, Vor- und Nachteile des ländlichen Standorts sowie aktuelle Herausforderungen der Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung. Der 1911 gegründete Betrieb wird heute in der vierten Generation geführt und hat aktuell 15 Mitarbeiter. Bis 1978 befand sich die Zimmerei im Dorfkern. Als der Betrieb wuchs und eine zusätzliche Halle benötigt wurde, kam es zum Standortwechsel an den Ortsrand – ein Vorteil, den der ländliche Standort durch freie Flächen und günstige Grundstückpreise mitbringe. Dass „jeder jeden kennt“ sei ein Vorteil für den Wirtschaftsstandort Dorf. Dennoch werde es immer schwieriger, junge Auszubildende zu finden und diese langfristig im Betrieb zu halten. Eine interessante Entwicklung sei, dass mittlerweile mehr Auszubildende aus Göttingen als aus der direkten Umgebung kämen. Fachkräfte orientierten sich vermehrt Richtung Stadt, Richtung Göttingen. Für Auszubildende bestünden sehr gute Chancen, im Betrieb übernommen zu werden.
Wahrnehmung des ländlichen Raums: Sichtbarkeit und Imagefragen
Bei der abschießenden Diskussionsrunde wurden Fragen zur Wahrnehmung ländlicher Räume sowie Perspektiven des Handwerks thematisiert. Grundlegend gelte es, die Sichtbarkeit ländlicher Kommunen zu stärken, um Mittelzentren als potenzielle Arbeits- und Wohnorte präsent zu machen. Ländliche Räume und Dörfer müssten im Internet stärker sichtbar sein, um speziell die jungen Menschen über digitale Kanäle abzuholen, sie zu „animieren, den Schritt aufs Land zu wagen.“ Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf das Projekt MedPJ+ der Universität Göttingen, das Medizinstudenten aufs Land bringt und damit gleichermaßen den Ärztemangel in sowie die Abwanderung aus der Fläche angeht. Der ländliche Raum brauche Kampagnen, um Angebote und Projekte (z.B. Mobilitäts-Apps) in den Alltag der Dorfbewohner/innen zu bringen. Voraussetzung dafür, so wurde es auch in dieser Runde mehrfach betont und bemängelt, ist freilich das Vorhandensein einer stabilen Internetverbindung. Anreize für das Arbeiten im Dorf schuf auch Frau Iller, die für eine junge Auszubildende ohne Führerschein eine Wohnung im Ort bereitstellte.
Wie lautet die Prognose für das Handwerk im ländlichen Raum? Frau Nikoleit und Herr Diedrich wiesen auf die Problematik hin, dass das Handwerk oftmals ein negatives Berufsimage habe. Bei der Berufsberatung werde Schüler/innen sogar teilweise vom Handwerk abgeraten, was auch damit zusammenhänge, dass immer mehr junge Erwachsene studieren. Dass ein Meister gleichwertig mit einem Bachelor-Abschluss ist, sei vielen oftmals nicht klar. „Man kann auch als Akademiker ins Handwerk gehen.“ Ein weiteres Problem sei, dass Jugendliche unter 16 Jahren keine Geräte nutzen dürfen, weshalb ein Schülerpraktikum wenig Begeisterung für den Handwerksberuf wecke. Herr Diedrich appellierte, es brauche einen besseren Austausch mit Schulen, es müsse Verständnis für das Handwerk und dessen Probleme geweckt werden. Für die Ausbildung im eigenen Betrieb müsse man aktiv sein, „Man muss um Nachwuchs kämpfen!“. Als ein Grundsatzproblem wurde abschließend eine oft verbreitete Wahrnehmung auf den ländlichen Raum angemerkt: Die Erwartungshaltung sei, dass in den Städten alle Angebote und Leistungen schnell zu erreichen sein müssten. Dass Landbewohner lange Fahrten zurücklegen müssen, werde als normal angesehen und oftmals nicht hinterfragt.
Welche Fragen oder Anregungen haben Sie in Bezug auf den Wirtschaftsstandort Dorf?